News Winter 2016

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Warum isst du nicht?

30-40% aller Eltern haben das subjektive Empfinden, dass sich bei ihrem Kind ein Fütterungsproblem zeigt. Bleibt dieses Problem trotz Hilfesuche über einen längeren Zeitraum bestehen, kann es sich objektiv gesehen zu einer Fütterungsstörung ausweiten. Fütterungsstörungen können, wie auch Gedeih-, Schlaf- und Schreistörungen, auf eine Eltern-Kind-Interaktionsstörung hinweisen. Man spricht dann von einem Präsentiersymptom.Aber was bedeutet Interaktion überhaupt? Interaktion ist die Gesamtheit der verbalen und nonverbalen Signale einer Person zu einer anderen und die daraus entstehende Wechselwirkung. Wenn über einen längeren Zeitraum wiederholt kindliche Signale nicht wahrgenommen oder missinterpretiert werden  und/oder gar nicht, inadäquat oder zeitverzögert beantwortet werden, liegt eine Eltern-Kind-Interaktionsstörung vor. Es handelt sich bei Interaktionsstörungen immer um einen dynamischen Prozess. Eine Ein-Schritt-Lösung ist selten möglich, Diagnostik und Therapie laufen meist gleichzeitig ab. Das wichtigste Werkzeug in der Arbeit mit den betroffenen Familien ist die Videotechnik. Dabei werden die Eltern wissentlich bei routinemäßigen Tätigkeiten mit ihrem Kind wie Füttern, Spielen, Wickeln etc. gefilmt. Die Kamera steht dabei auf einem Stativ, alle im Raum befindlichen Personen befinden sich vor der Kamera, um Ablenkungen zu vermeiden. Durch das mögliche wiederholte Abspielen des Videos werden vorerst unbeachtete Details sichtbar und somit eine optimierte Analyse der Situation möglich.

Ein Beispiel: news_4_16-1Eine Mutter wird mit ihrem 14 Monate alten Kind an die Säuglingspsychosomatische Abteilung überwiesen und aufgenommen. Eine typische Fütterungssituation wird gefilmt. Man sieht eine Mutter, die das Kind auf ihrem Schoß zu füttern versucht. Das Kind streckt sich durch, dreht den Kopf weg, schreit und weint, verweigert die Nahrungsaufnahme. Die Mutter hält das Kind fest und versucht, mit dem Löffel das Kind zu erreichen. Schließlich resigniert die Mutter und stillt ihr Kind, dabei ist ihr Blick ins Leere gerichtet. Nach der ätiologischen Einteilung der Eltern-Kind-Interaktionsstörungen nach Irene Chatoor handelt es sich hierbei um eine sog. posttraumatische Fütterungsstörung.  Das Kind hat durch den wiederholten Versuch der Zwangsfütterung Angst vor der Esssituation. Therapie ist nun, dem Kind zu ermöglichen, eine autonome Lösung zu finden. Nach der Phase des Zwanges wird ihm jetzt die freie Wahl gelassen. Der Vater verbringt ab sofort den Tag mit dem Kind, sie spielen viel miteinander, das Essen ist kein Thema. Die Mutter verlässt nach dem morgendlichen Stillen die Station und kehrt erst abends wieder zurück, dann wird das Kind von ihr gestillt und sie verbringen gemeinsam die Nacht. Nach einer Woche, während der das Kind medizinisch überwacht wird, da es außer den Stillmahlzeiten keine Nahrung zu sich nimmt, verlangt das Kind in der Stationsküche, in der gerade gekocht wird, ein Würstchen und isst es. Das Kind hat seine Autonomie wiedererlangt. In dem Kontrollvideo, das 10 Tage nach dem ersten Video aufgenommen wird, zeigt sich eine entspannte Esssituation.

Neben der posttraumatischen Fütterungsstörung beschreibt Dr.in Irene Chatoor in ihrer sechsteiligen Einteilung auch noch folgende Störungen: Die Regulationsstörung, die Bindungsstörung, die Individuationsstörung, die Neurosensorische Störung und die komplexe Störung. Zur Beurteilung der Situation werden, neben dem schon oben erwähnten Präsentiersymptom, auch noch der Zeitpunkt, der Schweregrad des Auftretens der Auffälligkeiten, die Regulationsmuster und das Temperament der beteiligten Personen herangezogen.

So vielschichtig die Gründe für das Auftreten einer Eltern-Kind-Interaktionsstörung sind, so unterschiedlich sind auch die Ausprägungen der Probleme, aber auch die Lösungen der Beeinträchtigungen. Wir erinnern uns – Interaktionsstörungen sind ein dynamischer Prozess und somit gilt auch für die Behandlungen: „Der Weg ist das Ziel“ (Konfuzius).