Der Gewichtsverlauf

Eine korrekte Interpretation hilft Probleme zu vermeiden

Sehr oft fühlen sich Eltern, natürlich vor allem Mütter, bei der Gewichtskontrolle ihres Kindes wie auf dem Prüfstand. Der Wert auf der Waage entscheidet, ob die Mutter beruhigt und selbstsicher mit dem Kind nach Hause geht, oder ob sie sich von nun an jeden Tag, bei jeder Stillmahlzeit, bei jedem Weinen des Kindes Sorgen macht, ob es nun Hunger hat, ob ihre Milch reicht… ja, ob sie eine gute Mutter ist.

Leider gibt es seitens des Fachpersonals, das mit jungen Eltern und deren Säuglingen arbeitet, immer noch viele verunsichernde Aussagen, Halbwissen oder schlichtes Äußern der eigenen Meinung, was aber mit wissenschaftlich fundierten Tatsachen oft nicht mehr viel gemeinsam hat.

Ein erster Weg, dies zu ändern wäre, dass ALLE Fachpersonen, die das Gewicht eines Babys interpretieren, dies mithilfe der WHO Wachstumsstandards machen. Hier ist schwarz auf weiß zu sehen, ob das Kind genug Muttermilch erhält. Zeigt die Kurve einen ungünstigen Verlauf, so sollte frühzeitig eine IBCLC ins Boot geholt und Ursachenforschung betrieben werden, denn nur von erneuten Gewichtskontrollen ohne zusätzliche Optimierungsmaßnahmen wird das Kind nicht plötzlich doch normal zunehmen.

WHO Standards

Grundlage für die 2006 veröffentlichten WHO Wachstumsstandards lieferte die von 1997 bis 2003 durchgeführte Multicentre Growth Reference Study (MGRS), welche Kinder aus 6 Ländern (Brasilien, Ghana, Indien, Norwegen, Oman, USA) untersuchte.

Die WHO Wachstumsstandards beschreiben das Wachstum von gesunden Kindern, die unter Bedingungen leben, in denen sie ihr volles, genetisch angelegtes Potential erreichen können: nämlich termingeborene Einlinge, die 4-6 Monate ausschließlich oder vorwiegend gestillt werden, ab 6 Monaten altersgerechte Beikost erhalten, bis mindestens zum 1. Geburtstag gestillt werden und außerdem in einer Nichtraucherumgebung und einer günstigen sozio-ökonomischen Umgebung aufwachsen.

Die WHO Standards sind präskriptiv, das bedeutet sie zeigen welches Wachstum zu erwarten ist, wenn ein Kind unter oben genannten Bedingungen lebt.

Ganz anders als formulaernährte Säuglinge, die in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ein höheres Gewicht im Vergleich zu ihren gestillten Altersgenossen aufweisen. So sieht man bei ausschließlich gestillten Kindern ein rasantes Wachstum in den ersten Lebenswochen und -monaten und ein deutlich langsameres im zweiten Lebenshalbjahr. Als biologische Norm ist in jedem Fall die Zunahme von gestillten Säuglingen zu betrachten.

Was sind Perzentilen?

Perzentilen zeigen das Wachstum einer Gruppe von Kindern im Verlauf. Diese Art der Darstellung gibt es für alle Wachstumsparameter (Größe, Gewicht, Kopfumfang). Liegt das derzeitige Gewicht des Kindes auf der 50% Perzentile so bedeutet das, dass 50% der gleichaltrigen Kinder schwerer und 50% leichter sind als dieses Kind. Würde das Gewicht auf der 3% Perzentile liegen, so wären 97% der Altersgenossen schwerer und 3% leichter als das betreffende Kind.

Da Mädchen anders wachsen als Jungen gibt es für beide Geschlechter eigene Perzentilen.

Die ersten Tage

Wie wir alle wissen ist eine Abnahme von 5-7% nach der Geburt als physiologisch zu betrachten. Sinkt das Gewicht unter 7% vom Geburtsgewicht, so soll durch geeignete Maßnahmen (z.B. das Kind zum Stillen wecken, mind. 10-12 Stillmahlzeiten, bei schläfrigen

Kindern ggf. Kolostrum per Hand gewinnen und stillfreundlich füttern, Brustkompression, Wechselstillen) einem weiteren Gewichtsverlust entgegengewirkt werden. Ab einer Abnahme von 10% ist ein Zufüttern (wenn möglich von Milch der eigenen Mutter und in stillfreundlicher

Form) indiziert. Verwunderlich ist, dass immer wieder berichtet wird, dass das Krankenhauspersonal ein Zufüttern bereits bei der 7% Grenze startet. Hier sind umfangreiche Personalschulungen und das Überdenken von klinikinternen Standards unbedingt anzustreben, da es allgemein bekannt ist, dass ein frühes unnötiges Zufüttern eine große Gefahr für die Stillbeziehung darstellt.

Bei gutem Stillstart kommt es nach dem 3. Lebenstag zu keiner weiteren Abnahme und ab dem 5. Lebenstag steigt das Gewicht wieder, sodass am 10. Lebenstag (allerspätestens am 14. Lebenstag bei engmaschiger Begleitung durch eine Fachperson) das Geburtsgewicht wieder erreicht wird.

Wie geht es weiter?

Die individuelle Wachstumskurve des Kindes sollte sich parallel zu einer der vorgegebenen Linien in den Wachstumsstandards entwickeln. Ist dies der Fall, so sprechen wir von einem perzentilenparallelen Verlauf. Eine Zunahme entlang der 3% Perzentile ist ebenso normal, wie ein Wachstum entlang der 97% Perzentile.

Die Wachstumsspanne in den WHO Wachstumsstandards reicht von der durchschnittlichen Zunahme eines Mädchens auf der 1. Perzentile (170g/Woche in den ersten 2 Monaten) bis zur Zunahme eines Jungen auf der 99. Perzentile (330g/Woche in den erste 2 Monaten) im beschriebenen Zeitraum. Daraus ergeben sich folgenden Werte:

0-2 Monate 170-330g/Woche
2-4 Monate 110-330g/Woche
4-6 Monate 70-140g/Woche
6-12 Monate 40-110g/Woche

Würde ein Mädchen auf der 1. Perzentile in den ersten 2 Lebensmonaten wöchentlich 170g zunehmen, so würde es sich weiterhin entlang der 1. Perzentile entwickeln, genauso ist es mit einem Jungen der 330g wöchentlich zunimmt, bei ihm würde es die 99. Perzentile bleiben

Diese mindestens 170g in den ersten 2 Monaten gelten aber nicht für Kinder, die auf einer höheren Perzentile gestartet sind. Ein Junge, dessen Geburtsgewicht auf der 97% Perzentile lag und nur 170g/Woche in den ersten beiden Lebensmonaten und anschließend 110g/ Woche zunimmt, zeigt in der Gewichtskurve ein deutliches Kreuzen nach unten mit dringendem Handlungsbedarf. (siehe Tabelle 3)

Die obige Tabelle kann deshalb nur als grober Richtwert gelten und wir sollten immer eine individuelle Wachstumskurve in der Beratung erstellen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Zunahme normal verläuft und das Baby somit genug Nahrung erhält.

Wie häufig wiegen?

Bei gesunden und termingeborenen Babys soll in den ersten Tagen täglich gewogen werden, v.a bis eine Zunahme zu verzeichnen ist und das Geburtsgewicht im normalen Zeitraum wieder erreicht wurde. Bis ca. 6 Wochen reichen wöchentliche oder etwas seltenere Kontrollen. Bis zu 6 Monaten soll alle 4-6 Wochen gewogen werden. Bei sichtlich

sehr gut gedeihenden Babys reichen die Termine zu den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen.

Zu häufiges Wiegen kann die Eltern sehr verunsichern, daher sollte nur in begründeten Ausnahmefällen eine Waage ausgeliehen werden.

In besonderen Situationen sind folgenden Wiegeabstände anzuraten:

  • Wenn ein Kind entlang einer der unteren Perzentilen wächst, so ist das normal. Gewichtskontrollen sind hier nicht seltener als alle 4-6 Wochen angeraten, da das Kind im Falle eines Problems keine großen Reserven hat.
  • Wenn die Gewichtskurve von einer höheren auf eine deutlich niedrigere Perzentile gesunken ist (z.B. von der 85% auf die 40% Perzentile), muss nach den Ursachen geforscht werden. Gewichtskontrollen sind hier nach 3-7 Tagen erforderlich.
  • Die Wirkung von eingeleiteten Maßnahmen (z.B. Optimierung des Stillmanagements, Start der Zufütterung) soll durch erst wöchentliche (bei jüngeren Babys schon nach 23 Tagen), später seltenere Gewichtskontrollen weiterverfolgt werden.
  • Stillproben sind sehr kritisch zu sehen und besitzen nur eine sehr begrenzte Aussagekraft, da die aufgenommene Milchmenge bei jeder Mahlzeit unterschiedlich ist. Statt Stillproben durchzuführen ist es besser, in kritischen Fällen das Baby einmal täglich zu wiegen. Der Aufwand und die Verunsicherung der Eltern sind hierbei deutlich geringer als bei Stillproben.

Beurteilung der Zunahme

Fachleute beurteilen die Zunahme eines Kindes oft sehr unterschiedlich. Einerseits wird teilweise (vor)schnell zum Zufüttern gedrängt. Andererseits wird manchmal (zu) lange gewartet, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten (hinzuziehen einer IBCLC,

Ursachenforschung, Pumpmanagement, zufüttern). Es wird oft gehofft, das Problem würde sich bei einer erneuten Gewichtskontrolle einfach in Luft aufgelöst haben. Beide Vorgehensweisen bergen ein hohes Risiko, dass die Stillbeziehung Schaden davonträgt.

Einzelne Gewichtswerte haben wenig Aussagekraft. Unterschiedliche Waagen und Wiegezeitpunkte, gerade gestillt vs. leerer Magen oder einmal vor und einmal nach erledigten Ausscheidungen gewogen, kann einen beträchtlichen Unterschied machen. Daher zählt immer der VERLAUF und nicht ein einzelner Gewichtswert. Selbstverständlich sollte aber sein, dass ein unplausibles oder besorgniserregendes Wiegeergebnis bei ansonsten unauffälligem Kind mit normaler Ausscheidungsmenge zeitnah kontrolliert wird.

Suboptimale Zunahme/deutlich zu geringe Zunahme/schwere Gedeihstörung

Ein gesundes Kind, dass nach Bedarf gestillt wird und wo weder die Mutter Risikofaktoren für eine zu geringe Milchbildung noch das Kind Risikofaktoren für eine ungenügende

Milchaufnahme haben, wird entlang „seiner“ genetisch vorgegebenen Perzentile zunehmen. Ein Kreuzen der Kurve nach oben stellt beim Stillkind keinen Grund für Interventionen und kein Risiko für späteres Übergewicht dar. Ein Kreuzen der Perzentilen nach unten ist aber IMMER ein Grund zum genaueren Hinsehen und Ursachenforschung.

Eine suboptimale Zunahme zeichnet sich durch ein Abfallen der Gewichtskurve um 10-15% aus. Ausscheidungen und Entwicklungsstand sind hier noch normal, das Kind verhält sich normal, ev. ist es unruhig an der Brust. Die Ursache ist hier meist im Stillmanagement zu suchen. Wird hier gleich mithilfe einer qualifizierten Stillberaterin das Stillmanagement verbessert und die Situation durch weitere Wiegekontrollen beobachtet, ist dies in den meisten Fällen zielführend, um einen weiteren Abwärtstrend zu verhindern.

Eine deutlich zu geringe Zunahme erkennt man an einem Abfall der Gewichtskurve um 20 Prozentpunkte oder mehr innerhalb weniger Wochen. Meist gibt es auch hier noch keine klinischen Anzeichen, ggf. kann eine leicht verringerte Ausscheidungsmenge bzw. -häufigkeit auffallen. Der Säugling kann bereits durch vermehrte Unruhe und Weinen an der Brust auf sich aufmerksam machen oder er zeigt einen Rückzug mit viel Schlaf und ineffektivem Stillen (nuckelt nur statt hörbar zu schlucken). Achtung!!! Diese Kinder gelten dann oft als sehr pflegeleicht und „brav“. Als erste Maßnahmen gelten hier der Beginn der Zufütterung (wenn möglich mit Muttermilch und stillfreundlich an der Brust), optimieren des Stillmanagements, Brustkompression, wechselstillen und wenn möglich zusätzlich pumpen. Parallel zu diesen Maßnahmen muss nach den Ursachen geforscht und diese behoben werden.

Eine schwere Gedeihstörung ist gekennzeichnet durch einen Abfall der Kurve um mehr als

50% Punkte und/oder weit unter die 3% Perzentile. Sowohl klinische Zeichen, als auch das Verhalten, die Ausscheidungen und der Entwicklungszustand sind auffällig. Hier lautet die oberste Priorität: sofortige Zufütterung und ärztliche Untersuchung (ev. stationäre Behandlung). Gleichzeitig muss eine Ursachenforschung wie bei der deutlich zu geringen Zunahme erfolgen, um ein Abstillen zu verhindern.

Bei Problemen, die das Gewicht betreffen, wo eine Steigerung der Milchmenge, eine Beurteilung der kindlichen Milchaufnahme oder das Zufüttern angebracht sind, empfiehlt sich die Zusammenarbeit mit einer Still- und Laktationsberaterin IBCLC um das Stillen zu schützen und zu optimieren.

Neben den WHO Standards, die in ausgedruckter Form zum Erstellen individueller Wachstumskurven verfügbar sind, liefert das Programm STILLDOK von Márta GuóthGumberger ein hilfreiches und vor allem einfach zu bedienendes Werkzeug zum Beurteilen von Gewichtsverläufen. Susanne Lachmayr, IBCLC

Quellen: Gewichtsverlauf und Stillen, 2. überarbeitete Auflage, Márta Guóth-Gumberger, Mabuse Verlag