News Herbst 2016

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Solange wir wollen!
Denn: „Stillen ist natürlich.“

news_3_16-1Dieser Aussage werden die meisten Mütter und Fachpersonen sofort zustimmen. Interessanterweise fällt es vielen Menschen unseres Kulturkreises dennoch schwer, eine Stilldauer von zweieinhalb bis sieben Jahren – welche laut der Anthropologin Katherine Dettwyler die biologisch normale Stilldauer für den Menschen ist – als normal und gesund zu akzeptieren.

Ausschließliches Stillen für die Dauer von 6 Monaten und bei angemessener Beikost fortgesetztes Stillen bis zu 2 Jahren oder darüber hinaus, solange Mutter und Kind dies möchten! – Das ist die von der WHO ausgegebene weltweite Gesundheitsempfehlung Resolution WHA 54.2 (2001). Trotzdem hören viele Mütter nach etwa einem halben Jahr: „Was, du stillst noch?“ oder „Wie lange willst Du Dir das noch antun?“. Und brauchen Mütter im 2. Lebenshalbjahr ihres Kindes eine medizinische Intervention, nehmen nur wenige Ärzte die Mühe auf sich, eine entsprechende stillfreundliche Therapie zu finden. Allzu oft und häufig völlig unnötig hören Mütter dann, sie sollten das Stillen einstellen, damit eine vernünftige Therapie geplant werden könne und überhaupt – „Sie haben ja schon lange genug gestillt“.
Im schlimmsten Fall hören Mütter sogar, dass die Muttermilch nach dem 6. Lebensmonat wertlos, ja sogar schädlich sei! Dass Stillen über das 1. Lebensjahr hinaus die Entwicklung ihres Kindes stören würde! Dass die Kinder sich niemals mehr abstillen würden, ihre Kinder verhaltensgestört wären oder sie als Mütter ihre Kinder nicht loslassen könnten! In diversen sozialen Medien lösen Fotos, Berichte oder Postings von älteren Stillkindern oft einen Shitstorm nach dem anderen aus. Und es kommt sogar zu Anzeigen wegen „Kindeswohlgefährdung“ und „Kindesmissbrauch“.

Stillen – ganz individuell

„Normalität ist nun einmal zu einem guten Teil das Resultat einer kulturellen Konsensbildung: Je nach Gesellschaft, in der Menschen leben, empfinden sie es als normal, ein Kind nur vier Wochen lang oder aber vier Jahre zu stillen“, schreibt der Autor, Wissenschaftler und Kinderarzt Herbert Renz-Polster in seinem Buch „Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt.“ Kurz oder gar nicht stillen, stillen wie es gerade der gesellschaftlichen Norm entspricht oder eine Stillphase, die in mehreren Jahren angegeben wird – letztlich ist der Zeitpunkt des Abstillens eine individuelle Entscheidung jedes einzelnen Stillpaares. Der beschriebene soziale Druck löst bei Müttern aber immer öfter Zweifel aus, ob sie den eigenen Gefühlen, dem offensichtlichen Bedürfnis ihres Kindes oder den irritierenden Aussagen aus ihrer Umgebung trauen und sich dem Druck schlichtweg beugen sollen.

Am Ende folgt jede Entscheidung aus bestimmten Gründen. Aber manche Behauptungen, die dann als „Gründe“ für das Abstillen genannt werden, entbehren einer wissenschaftlich haltbaren Grundlage und machen stillenden Müttern einfach nur das Leben schwer:

  • Behauptung 1
    Muttermilch verliert im Laufe der Zeit an Wert, wirkt später sogar schädlich.

FAKT ist: Haben Kinder uneingeschränkten Zugang zur Mutterbrust, so nimmt nach dem Beikostbeginn zwischen dem 6. und 24. Lebensmonat die Menge der produzierten Muttermilch zwar ab, beträgt aber noch immer ca. 500 ml täglich. So können Kinder im 2. Lebensjahr ihren Energiebedarf zu rund einem Drittel bis zur Hälfte aus Muttermilch decken. Auch der Vitamin- und Mineralstoffbedarf wird so zu einem großen Anteil aus Muttermilch gedeckt: z.B. Vitamin A zu 70 – 100%, Vitamin C zu 95%, Niacin zu 41%, Riboflavin zu 21%, Kalzium zu 44%, Eisen zu 50%, Folsäure zu 26%. Nach dem 6. Lebensmonat steigen die Mengen an Immunglobulinen wieder an. Im 20. Lebensmonat entsprechen IgA und IgG jenen Spiegeln, die 2 Wochen post partum gemessen werden. Ein gestilltes Einjähriges bekommt Lysozym in den Mengen wie im Kolostrum, Laktoferrin zeigt mit zunehmender Stilldauer kontinuierlich ansteigende Werte. Muttermilch deckt den Eiweißbedarf eines 2 Jährigen bis zu 38% und bietet dem Kind langkettige mehrfach ungesättigte Fettsäuren, di  wichtig sind für die Entwicklung des Zentralnervensystems.

Die Übertragung von Schadstoffen über die Plazenta ist während der gesamten Schwangerschaft deutlich höher als nach der Geburt über die Muttermilch, mit zunehmender Stilldauer und mit jedem weiteren Kind sinkt die Schadstoffbelastung der Muttermilch kontinuierlich ab.

  • Behauptung 2
    Langes Stillen zehrt die Mutter aus und ist für die Mutter schädlich – die Mutter opfert sich für das Kind auf.

FAKT ist: Die Betreuung eines Babys oder Kleinkindes ist emotionelle Schwerstarbeit. Für die meisten Mütter und ihre Kinder sind die Stillmahlzeiten kleine, aber wichtige Pausen zum Auftanken. Fühlen sich Mütter trotz allem ausgelaugt, sollte zu allererst ihr Essverhalten überdacht und ihre Gesundheit überprüft werden (Eisen, Schilddrüse, Psyche, …). Mütter sollten nicht auf sich selbst vergessen und sich z.B. gemeinsam mit dem Kind ein Mittagsschläfchen gönnen. Nur in sehr seltenen Fällen zehrt Stillen tatsächlich massiv an der mütterlichen Substanz. Im Gegenteil schützt es, da sich mit zunehmender Stilldauer die Wahrscheinlichkeit, dass die Mutter im späteren Leben an Osteoporose, Mamma-, Ovarial-, Uterus- oder Endometriumkarzinom erkrankt, verringert.

  • Behauptung 3
    Langes Stillen ist … abnormal, … stört die psychische Entwicklung des Kindes, … zeugt davon, dass die Mutter sich nicht von ihrem Kind lösen kann, ist Kindesmissbrauch.

FAKT ist: Jahrtausende lang bot das Stillen bis ins Kleinkindalter einen erheblichen zusätzlichen immunologischen Schutz, förderte die Resilienz des Kindes und gehörte schlicht zum reproduktiven Zyklus. Über Stillphasen bis ins 3. Lebensjahr kann man bereits in der Bibel und im Koran nachlesen. Es gibt nur spärliche wissenschaftliche Untersuchungen über den psychologischen Aspekt des Stillens. Eine Studie, die sich speziell mit Kindern, die länger als ein Jahr gestillt wurden, beschäftigte, zeigte einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Stilldauer und den von der Mutter und den Lehrern beobachteten sozialen Kompetenz der 6 bis 8 Jahre alten Kinder. In den Worten des Wissenschaftlers: „Es gibt statistisch signifikante Tendenzen, dass Verhaltensstörungen seltener vorkommen, je länger die Stillzeit war.“ (Ferguson et al, 1987)

Die Amerikanische Akademie der Kinderärzte empfiehlt: „Kinder sollten das ganze erste Lebensjahr und danach gestillt werden, solange dies Mutter und Kind wünschen. Eine längere Stillzeit bietet gesundheitliche und entwicklungsbedingte Vorteile für das Kind und die Mutter. Es gibt kein oberes Limit für die Stilldauer und keine wissenschaftlichen Belege für einen psychologischen oder entwicklungsbedingten Schaden durch das Stillen im dritten Lebensjahr oder später. (AAP 2005)

Der richtige Zeitpunkt

Jede Familie ist einzigartig – das eine Kind verliert früher sein Bedürfnis zu Stillen als das andere und selbstverständlich spielen die Bedürfnisse der Mutter und die der ganzen Familie eine große Rolle. Die Funktion des Stillens verändert sich mit zunehmendem Alter des Kindes. Auch wenn Muttermilch weiterhin eine wertvolle Nahrungsquelle bleibt, ernährt sich das Kleinkind zunehmend mehr am Familientisch und kann so gut auch mal einige Zeit ohne Mamas Brust auskommen. Stillen wird zu einem liebevollen Weg, die Bedürfnisse von Kleinkindern zu befriedigen und gibt den Kindern eine gute Basis um sich letztlich selbstbewusst von den Eltern zu lösen.