News Sommer 2016

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In der Schwangerschaft wächst von Tag zu Tag, von Woche zu Woche und von Monat zu Monat die Mutter-Kind-Bindung. Das Kind bereitet sich mit seinen natürlichen Instinkten – zum Beispiel Saugübungen an der eigenen Hand – auf die Welt nach der schützenden Gebärmutter mit Hotelleistung „all inklusive“ vor. Neigt sich die Schwangerschaft dem Ende zu, spürt die Mutter schon einige Zeit vor der Geburt die sogenannten „Vorwehen“, auch als „Senkwehen“ bezeichnet. Wie der Name bereits verrät, bereiten sie das Baby und dessen Mutter auf die bevorstehende Geburt vor. Setzen dann die kräftigeren Kontraktionen der Gebärmutter ein, wird das Geburtsgeschehen eingeleitet. Und dieses besondere Grenzerlebnis für Mutter und Kind ist eine sehr prägende Phase. Das Kind erlebt seine erste Autonomie-Erfahrung.

Geburt und Bonding

Von den Frauen wird eine Geburt meist mit dem Besteigen eines Gipfels oder dem Reiten eines Tigers verglichen. Als Symbol für eine absolute Grenzerfahrung. Nach der Geburt hat die Mutter den Drang, sich ihr Baby auf den Bauch zu legen. Das erste Bonding, sprich Hautzu- Haut-Kontakt, findet statt. Diese Zeit dient dem Rasten, dem Kennenlernen – die ersten Blickkontakte zwischen Mutter und Neugeborenen finden statt. Eine sehr prägende Phase des „Ineinander-verlieben-dürfens, sprich – ein sehr inniger Moment für die ganze Familie. Die Mutter besitzt das intuitive Wissen, wann ihr Baby Unterstützung benötigt. Eine leichte Stimulation des Kindes seitens der Mutter erfolgt ebenso selbständig. Die natürliche Geburt mit einer wohlwollenden, bestärkenden Umgebung gibt der Mutter Stärke und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Negative Einflüsse, die das erste Bonding stören, sind Stress, Trennung, Sedierung, Zeitdruck und unnatürliche Positionen von Mutter und Kind. Auch ist dieser Zeitpunkt nicht dafür vorgesehen, durch die Krankenhausroutine gestört zu werden. Haben wir als Krankenhauspersonal das Recht dazu, diesen einzigartigen Moment zu unterbrechen? So manche Routine in den Kliniken sowie der eigene Verantwortungsbereich gehört von Zeit zu Zeit entrümpelt und auf Vordermann gebracht. Warum also nicht gleich damit beginnen? Denn unnötige Eingriffe stören das intuitive Handeln der Mütter und können somit den Bindungsaufbau und die nachfolgende Stillbeziehung erheblich beeinträchtigen.

Kind kann’s!

Ein gesundes, vitales Neugeborenes schafft im Rahmen des ersten Bondings den Weg vom Bauch der Mutter in ca. 30–60 Minuten zur Brust. Durch mehrere einzelne Reflexketten robbt bzw. schiebt sich das Baby zur Brust. Die Wachheit beim ersten Bonding in Kombination mit dem Wunsch, sich mit der Mutter erneut zu verbinden, lassen die Neugeborenen die richtige Richtung finden. Im Idealfall verweilen Mutter und Kind bis zum ersten erfolgreichen Stillversuch in Hautkontakt. Wichtig ist, die Natur und Physiologie der Mutter-Kind-Bindung und weiter das Stillen zu verstehen, um somit einen Raum zu schaffen, wo keine Störung erfolgt. Die natürlichen, kindlichen Reflexe können durch die negativen Einflüsse beeinträchtigt werden – sie stören das Baby gleich wie die Mutter. Notwendige Eingriffe bei lebensbedrohlichen Allgemeinzuständen stehen natürlich außer Frage.

Stillen und Babys Reflexe

In den ersten Lebenswochen kann der sogenannte Breast-Crawl oder das Intuitive Stillen immer wieder eingesetzt werden. Hierbei versteht man das selbständige Robben des Kindes zur mütterlichen Brust. Hierfür ist nicht viel nötig: Wichtig ist, dass sich die Mutter ZEIT nimmt und eine zurückgelehnte bequeme Position einnimmt. Das Baby liegt Bauch an Bauch mit der Mutter. In Hautkontakt hat das Baby die Möglichkeit zu sehen, zu riechen und zu fühlen, die eigenen Reflexe wieder zu betätigen. Das Baby liegt in zugewandter Haltung zur Mutter. Durch den Fechter-, Babkin- und Greifreflex erfolgt die Vorbereitung zum Stillen. Der Fechterreflex ist auch unter „Asymmetrisch-tonischer Nackenreflex“, Abkürzung ATNR, bekannt. In den ersten 6 Wochen, ausgelöst durch das Seitwärtsdrehen des Kopfes, streckt das Baby den Arm, der sich im Blickfeld befindet. Der abgewandte Arm wird gebeugt. Durch beidseitigen Druck auf die Basis der Handflächen lässt sich der Babkinreflex auslösen. Die Reaktion des Neugeborenen ist hierbei das Öffnen des Mundes und das Drehen und Heben des Kopfes. Abschließend erfolgt noch der Greifreflex. Erhöht sich der Druck auf die Handflächen ist der Faustschluss die Reaktion. Eine geballte Faust stellt das Symbol für mehr Kraft dar. Auch das Baby macht sich das zunutze. Bei saugschwachen Kindern, z.B. bei Frühgeborenen, kann dieser Effekt zur Unterstützung eines effektiveren Saugens Anwendung finden. Auch der Schreitreflex darf nicht vergessen werden. Das Baby stößt sich mit den Beinen bei Berührung der Fußsohlen ab und hebt gleichzeitig seinen Kopf. Das Berühren der Mamille mit der Wange oder dem Mundwinkel des Kindes stimuliert das Suchen (Suchreflex). Das Baby öffnet den Mund weit und dreht seinen Kopf. Das Baby braucht Zeit, um den Mund richtig und vollkommen öffnen zu können. Die Berührung der Mamille mit der Zungenspitze lässt das Baby die Zunge bis zur Unterlippengrenze herausstrecken. Das Saugen beginnt. Die Mamille wird von den Lippen, Zunge und der Mundhöhle abgedeckt. Ein rhythmisches Öffnen und Schließen des Kiefers, also eine erfolgreiche Stillmahlzeit nimmt
ihren Lauf. Mutter und Kind brauchen vor allem ausreichend Zeit, um die natürlichen Reflexe einzusetzen. Nachfolgend erleben viele Stillpaare eine gute entspannte Stillzeit.

Stillförderung ist Bindungsförderung

Wichtig sind Wissen und Kompetenz beim Fachpersonal und Verständnis für die Bedeutung der ersten Stunden nach der Geburt. Auch auf die Kompetenz von Mutter und Kind ist zu achten und ist vor allem zu respektieren! Es hilft, soweit wie möglich Sedierungen, Kontaktunterbrechungen, Zeitdruck und Stress von jedem einzelnen Mutter- Kind-Paar fernzuhalten. Die Mütter und ihre Kinder brauchen oft Unterstützung dabei, eine gemütliche, entspannte Position zu finden. Das Wissen über das Vorhandensein von physiologischen Reflexen ist Voraussetzung, um sie auch nützen zu können. Generelle Bestärkung der Bindung und die Aufklärung der Mütter über die Körpersprache ihres Babys sind notwendig, damit die kindlichen Bedürfnisse erkannt und nachfolgend adäquat darauf reagiert werden kann. In der ersten Prägungsphase ist eine Verwendung von Sauger, Hütchen oder Schnuller übrigens nicht empfohlen. Ist im medizinischen Ausnahmefall eine Zufütterung notwendig, so ist eine stillfreundliche Zufütterungsmethode zu wählen. Mit diesem wichtigen Bindungsaufbau stellt man sicher, dass das Kind nicht mehr ohne seine Mutter sein muss. Denn eine Mutter, die ihr Kind gestillt hat, verlässt es nicht mehr. Und für uns  Fachpersonen ist es wichtig zu wissen, dass manchmal „weniger zu tun“ am Ende auch „mehr getan zu haben“ heißen kann.