News Sommer 2017

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Tragen, Körperkontakt, Stillen … ein unschlagbares Trio!

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© www.trageschule.com

Einen Säugling zu tragen war in stammesgeschichtlicher Zeit eine Garantie für sein Überleben. Aber auch die vormenschliche Stammesgeschichte erforderte das Tragen des Nachwuchses. Bezieht man diese Zeit mit ein, so kann man von einer mehr als 50 Millionen Jahre langen „Trage-Tradition“ sprechen. Eine solche Zeitspanne bedeutet tief verwurzelte Anpassungen an das Getragenwerden und die beständige Nähe zu einer Betreuungsperson.

Nähe eines vertrauten Menschen

Das Verlangen eines Säuglings nach beständiger Nähe einer vertrauten Betreuungspersonen ist ein grundlegendes Bedürfnis. Alleine in einem Raum zurückzubleiben empfindet ein Säugling als lebensbedrohlich, da er weit über das erste Lebenshalbjahr hinaus kognitiv nicht erfassen kann, dass etwas weiterexistiert, wenn er es nicht sehen, hören, riechen oder fühlen kann. Dass die Fürsorge seiner Eltern auch in ihrer Abwesenheit weiterhin besteht, kann ein Säugling erst mit etwa einem 3/4 Jahr begreifen. Eltern vermitteln einem Kind üblicherweise das Gefühl der psychischen Sicherheit, Angstfreiheit und Geborgenheit. Die Person, die am verlässlichsten zugegen ist, wird die Hauptbindungsperson. Dies ist unabhängig von der Betreuungsqualität, die sich jedoch ohne Frage auf die entstehende Bindung des Kindes auswirkt Die elterliche Betreuungsqualität entscheidet nicht alleine über den Verlauf der Bindungsbeziehung auf Seiten des Kindes. Doch ein feinfühliger, liebevoller Umgang führt üblicherweise zu einer sicheren Bindung.

Das intuitive Elternprogramm

Voraussetzung für eine normale Entwicklung eines Kindes ist, dass es sich zumindest an eine Person binden kann – dies ist eine biologische Vorgabe. Doch nur unter geeigneten Bedingungen entsteht nicht nur „einfach“ eine Bindung, sondern eine sichere Bindung. Auch wenn beim Menschen die „Jungenaufzucht“ nicht instinktsicher genetisch abgespeichert ist, können Eltern auf biologische Ressourcen zurückgreifen. Es besteht eine phylogenetische Vorprogrammierung für eine individuelle Bindung an ihr Kind. Durch das intuitive Elternprogramm kann jede für die kindlichen Signale aufgeschlossene Person auf die Bedürfnisse eines Kindes altersgemäß angepasst agieren und die noch unzureichend gesteuerten Verhaltensweisen eines Säuglings kompensatorisch ausgleichen. Doch das intuitive Elternprogramm ist eine Disposition, das bedeutet, dass seine Durchsetzungsfähigkeit durch ungeeignete Lebensbedingungen be- oder gar verhindert werden kann.

Eltern unter Druck

Traditionale Kulturen vermitteln uns eine Vorstellung von den Lebensbedingungen in stammesgeschichtlicher Vorzeit – insbesondere im Falle von noch existierenden Jäger- und Sammler-Gesellschaften. Ein Vergleichen der Lebensgewohnheiten derartiger Sozialgemeinschaften mit den Gegebenheiten, denen junge Familien in unserer sogenannten westlichen Welt gegenüber stehen, zeigt: Dort eine die junge Mutter unterstützende Gesellschaft, in der die Last der Säuglings- und Kinderbetreuung auf mehrere vertraute Personen verteilt ist; hier eine Lebenssituation, in der junge Mütter nicht selten weitgehend alleine und isoliert an die Grenzen der Überforderung geraten. Die Anforderungen und Erwartungen, deren sich Eltern meist sehr wohl bewusst sind, sind hoch (siehe nebenstehende Liste). Unkenntnis, Unsicherheit und insbesondere Stress sind jedoch die „Gegenspieler“ des intuitiven Elternprogramms. Und Stress hat im Familienalltag viele Seiten: Müdigkeit ist ein ständiger Begleiter … Unsicherheit im Umgang mit einem Säugling – nicht selten ist das eigene Baby das erste Kind überhaupt, das Eltern in den Händen halten … Der Wunsch, alles richtig machen zu wollen, sind nur Beispiele. Kinder demzufolge fördern und schützen zu wollen heißt, für geeignete Rahmenbedingungen für die Eltern zu sorgen, damit diese sich vom ersten Tag an emotional ihrem Kind zuwenden können, wie die Untersuchungen zur Bedeutung des Frühkontaktes belegen. Dieser frühe Körperkontakt ist nicht nur für die Elternseite wichtig. Auch das Neugeborene profitiert davon. Die taktile Wahrnehmung ist prinzipiell eine der wichtigsten Kommunikationskanäle während der gesamten Säuglingszeit und essentiell für eine normale Entwicklung. Beim Thema Körperkontakt möchte ich auf die physiologischen Abläufe von Berührungen und insbesondere auf die Bedeutung des Hormons Oxytocin eingehen. Es ist nicht nur beim Geburtsprozess und Stillgeschehen wichtig, es beeinflusst genauso sehr das Verhalten zwischen Mutter bzw. Vater und Kind und setzt eine Kaskade von Reaktionen des Körpers in Gang.

Alleskönner Oxytocin

Eine Ausschüttung des Hormons Oxytocin erfolgt durch jede Art des angenehmen Hautkontaktes. Bei Berührung der Haut …

  • erfolgt eine Rückmeldung via kleiner Nerven zurück zur Haut (stärkere Durchblutung = angenehme Empfindung)
  • gleichzeitig werden Informationen via Nervenimpulse zum Rückenmark gesendet; von dort gehen Impulse – erneut zurück zur Haut – zu Hirnstamm und Hypothalamus (Ausschüttung von Oxytocin) – zu verschiedenen Arealen des Großhirns.

Die allgemeine Wirkung dieses Hormons ist vielfältig. Das Oxytocin …

  • stimuliert die soziale Interaktion
  • verringert Blutdruck und Puls
  • wirkt allgemein beruhigend
  • verringert den Cortisolspiegel (puffert somit Stress ab) und
  • verbessert die Wundheilung.

Neben den gerade beschriebenen Effekten ist bei Säuglingen – insbesondere im Hinblick auf die Langzeitwirkung – hervorzuheben, dass es die Stressresistenz und die Immunreaktionen verbessert, und dass die Babys eher an Gewicht und Größe zulegen, da eine neuronale Oxytocinverbindung zum Gastrointestinalsystem besteht. Das Hormon bietet einen Erklärungsansatz für die verschiedenen Untersuchungen, die die positive Wirkung des Frühkontakts und häufiger taktiler Anregungen beschreiben.

Körperkontakt – alle profitieren

Der taktilen Anregung kommt in dem Alter, in dem sich das Gehirn grundlegend strukturiert und in der die ersten emotionalen Erfahrungen gesammelt werden, eine besondere Bedeutung zu. Ihrem Kind emotional zugewandte Eltern bieten ihm normalerweise unbewusst genügend taktilen Kontakt. Auch die Eltern selbst werden durch häufigen Körperkontakt beeinflusst und ebenso, wenn sie ihr Kind tragen. Ein nicht zu unterschätzender Effekt ist die „Entspannung“ des Tagesablaufs, da dem Kleinen gleichzeitig mit den notwendigen Alltagsaufgaben die erforderliche und von ihm verlangte Nähe vermitteln wird. Gelassenheit im Alltag ist ein kaum zu überschätzender Vorteil. Wie gesagt, Stress ist der große Gegenspieler des intuitiven Elternprogramms. Zudem können im direkten Körperkontakt aktuelle Bedürfnisse und Erfordernisse eher als auf Kinderwagendistanz erfühlt werden. Diese Nähe ermöglicht den Eltern, sich besser und schneller auf ihr Kind einzustellen, d.h. Stresssituationen zu vermeiden. Dies bedeutet ein allgemein ruhigeres, weniger weinendes Kind, was wiederum das elterliche Kompetenzgefühl stärkt. Die körperliche Nähe während des Tragens fördert die elterliche Sensitivität, was seinerseits die Entwicklung einer sicheren Bindung auf Seiten des Kindes begünstigt. Ein sich gegenseitig bestärkender Prozess, ist er einmal angeschoben.

Einfluss des Tragens auf die Mütter

Wie wichtig Körperkontakt und die Bestärkung der Eltern, ihre Kinder zu tragen, ist, zeigt eine Studie, die Stillen und Tragen in Beziehung setzte. Mütter, die eine Stillberatung und eine Tragehilfe erhielten, stillten ihre Kinder länger als Mütter, die lediglich an der Beratung teilnahmen. So stillten nach 2 Monaten noch 72% der Mütter in der Tragegruppe, in der Kontrollgruppe lediglich 51%. Nach 5 Monaten stillten in der Tragegruppen noch 47%, in der Kontrollgruppe nur noch 24%. Auch die Untersuchungen von Anisfeld bestätigten die positive Wirkung des Tragens auf das Verhalten der Eltern bzw. Mütter. Mütter aus einem sozial kritischen Umfeld – hier war eher eine unsichere Bindung der Kinder zu erwarten – gingen aufgrund des häufigeren Körperkontaktes durch die Benutzung eines Softcarriers feinfühliger mit ihren Kindern um. Im Alter von 13 Monaten zeigten diese signifikant häufiger eine sichere Bindung (83%) als Kinder der Kontrollgruppe, deren Mütter eine Kindertrageschale verwendeten (38%), also eher körperdistanziert mit ihrem Baby umgingen.