News Sommer 2020

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Kultur bezeichnet die Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen. Wir haben es daher nicht nur mit Unterschieden auf verschiedenen Kontinenten zu tun, sondern mit viel kleineren regionalen Strukturen, in denen es verschiedene Kulturen des Stillens bzw. des Fütterns von Muttermilch gibt.

Ein bekanntes Beispiel dafür ist, dass im Islam sogenannte „Milchgeschwister“ als verwandt gelten. Als Milchgeschwister werden Kinder bezeichnet, die von derselben Frau Muttermilch erhalten. Ein „Milchbruder“ oder eine „Milchschwester“ darf niemals geheiratet werden und es gilt, wie bei leiblichen Verwandten, ein Heiratsverbot wegen zu enger Verwandtschaft.

Ein weniger bekanntes Beispiel schildert der pensionierte Hausarzt Dr. med. Bernhard Zumsteg, der als Gastarzt zwei Monate in einem Gesundheitszentrum in Äthiopien gearbeitet hat: „Mütter in Äthiopien glauben, dass durch Milch von fremden Müttern auch fremde und negative Charakter- oder Wesenseigenschaften oder auch Krankheiten auf ihr Baby übertragen werden können. Traditionell stillen die äthiopischen Frauen bis zur Geburt des nächsten Kindes. Dann bekommt das erste Kind abrupt von einem Tag auf den anderen keine Muttermilch mehr und die Mutter stillt dann ab sofort nur noch das zweite Kind. Das Kolostrum wird dem Neugeborenen verweigert. Die Äthiopierinnen sind der Meinung, dass die „richtige“ Milch erst mit dem Milcheinschuss kommt. Anstelle von Kolostrum erhält das Neugeborene in den ersten zwei bis drei Tagen Tee oder Wasser mit etwas Butter.“

Besonders rund um das Kolostrum kursieren unterschiedliche Ansichten. In verschiedenen Teilen der Welt (z.B. in Regionen Pakistans, Afghanistans, Nepals und in Mexiko) gibt es aufgrund der „eitrig“ anmutenden Beschaffenheit Vorbehalte gegen die Gabe von Kolostrum. In ländlichen Gebieten Nigerias werden Krankheitserreger im Kolostrum vermutet und nach manchen Vorstellungen soll Kolostrum in Thailand Durchfälle und in Nepal Erbrechen verursachen. In Bangladesch hingegen ist die Annahme verbreitet, dass Frauen aufgrund der Erschöpfung nach der Geburt nur wässrige, bittere und für das Neugeborene schädliche Muttermilch produzieren. Bei den Fula in Guinea-Bissau allerdings erfährt das Kolostrum besondere Wertschätzung, wie sich in dem vor Ort üblichen kindlichen Ausspruch zeigt: „Du hast in diesem Spiel verloren, weil du nicht das Kolostrum deiner Mutter bekommen hast.“ In Europa ist das unmittelbare und häufige Anlegen des Babys nach der Geburt heutzutage Standard, obwohl auch hier Kinderärzte noch 1939 die Ansicht vertraten, dass das Kolostrum dem Neugeborenen keine Vorteile bringt. Auch impliziert die im deutschen Sprachraum immer noch gebräuchliche Bezeichnung „Vormilch“, dass es sich um Muttermilch in unvollständiger Zusammensetzung handelt.

Was bedeutet dieses Wissen nun für den Arbeitsalltag auf der Geburtshilfe?

Bei der Pflege im Wochenbett besteht die Aufgabe der Pflegeperson unter anderem darin, die Laktation und das Stillen zu fördern. Kulturbedingt unterschiedliche Ansichten bezüglich Muttermilchgabe und Stillen verunsichern sowohl die Frau im Umgang mit ihrem Baby, als auch die Pflegeperson. Oft wird das gegenseitige Verstehen noch zusätzlich durch eine vorhandene Sprachbarriere behindert. Die Bereitstellung von Stillanleitungen und Informationen in verschiedenen Sprachen kann hier hilfreich sein. Damit Kommunikation gelingen kann, ist einerseits das Wissen über kulturelle Unterschiede nötig (z.B. Fortbildungen für das Pflegepersonal in transkultureller Pflege anbieten) und andererseits ein empathischer, respektvoller Umgang hilfreich. Wir können versuchen, durch Beobachtung, Intuition und rationale Analyse einen Menschen zu verstehen und eine Situation zu bewerten. Dabei ist es wichtig mitzubedenken, dass unerwartete Reaktionen aufgrund von möglichen Fehlinterpretationen folgen können.

„Die objektive Wirklichkeit gibt es nicht – es wird nie zwei Menschen geben, die zugleich auf die gleiche Art und Weise das Gleiche erleben,“ schreibt Sonja Radatz 2015 in ihrem Buch „Beratung ohne Ratschlag.“